Coronavirus-Ausbruch über Ostasien hinaus führte global zu Marktverwerfungen und tiefen Einschränkungen des öffentlichen Lebens, aber auch zu beispiellosen wirtschaftlichen Hilfsprogrammen.
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Mikio Kumada, Global Strategist LGT
Rezession als Pandemiebekämpfung
Seit Ende Februar erleben Anleger eine Achterbahnfahrt an den Börsen, und an den Kreditmärkten herrscht Stress. Das Coronavirus (COVID-19) breitet sich inzwischen weltweit aus und hat beispiellose Massnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit und Wirtschaftspolitik ausgelöst. Nach und nach griffen die Behörden in einem Land nach dem anderen zu signifikanten Einschränkungen des öffentlichen Lebens, die eine normale Geschäftstätigkeit verunmöglichen. Die Rezession wurde praktisch als Corona-Gegenmittel verschrieben.
Parallel dazu hat allerdings ein Land nach dem anderen auch die Leitzinsen gesenkt und umfangreiche geld- und fiskalpolitische Stabilisierungsmassnahmen ergriffen – die inzwischen mehrere Billionen US-Dollar schwer sind und vom Neustart unbeschränkter quantitativer Lockerungsprogramme bis hin zu Geldzahlungen an Haushalte und Unternehmen reichen.
Infolgedessen hat sich die Debatte unter den Anlegern von der Frage, ob es nun eine Rezession geben wird oder nicht, auf die Dauer und die Dimension des Einbruchs verlagert. Der potenzielle Silberstreifen am Horizont besteht allerdings darin, dass die Pandemie in China und einigen Nachbarregionen zumindest vorläufig am Abklingen ist. Europa hatte innerhalb weniger Wochen bei der Anzahl der Infektionen und Todesfälle das Pandemie-Ursprungsland China eingeholt, während die USA schnell aufholten. In Ostasien hingegen sind die meisten Länder inzwischen von den internen und regionalen Schutzmassnahmen zur Vermeidung der Wiedereinfuhr des Virus aus dem Westen und dem Rest der Welt übergegangen.
Die konkrete Situation unterscheidet sich von Land zu Land. Dort, wo Gesundheitssysteme bereits überlastet sind oder es voraussichtlich bald sein werden, sind harte Ausgangssperren üblich, während andere Länder sich weitgehend auf Appelle an die bürgerliche Verantwortung beschränken. Aus diesem Grund können einige Regionen möglicherweise den Höhepunkt der Pandemie bereits überschritten haben (z.B. Teile Ostasiens und Nordeuropas), während anderen das Schlimmste noch bevorsteht (z.B. Grossbritannien, USA, viele Schwellen- und Entwicklungsländer). Was das Ergreifen erster Vorsichtsmassnahmen betrifft haben einige asiatische Länder gegenüber Europa und den USA zudem einen zeitlichen Vorsprung von mindestens einem Monat und bieten somit möglicherweise eine Orientierung für den Entwicklungspfad der Pandemie im Westen. Die globalen Ansteckungsdaten werden daher für einige Zeit auf jeden Fall wichtig bleiben.
Unsere Makro-Einschätzung: Haupt- und Risikoszenarien
Zurück zu den Wirtschaftsfragen: Bisher sind nur wenige Datensätze verfügbar, die das volle Ausmass der Auswirkungen der verschiedenen Eindämmungsmassnahmen messen. Es ist jedoch klar, dass im ersten Halbjahr deutliche Produktionsrückgänge und ein Ansprung der Arbeitslosigkeit weltweit die Norm sein werden. Die Federal Reserve von Dallas rechnet beispielsweise für die USA mit einer annualisierten Rückgangsrate des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von mehr als 20% im kommenden Quartal gegenüber dem Vorquartal (gemäss Dallas-Fed-Präsident Robert Kaplan am vergangenen Freitag). Schätzungen aus dem Privatsektor sind zahlreich und ändern sich häufig – wobei viele Analysten einen noch grösseren Einbruch befürchten. Die Hauptfragen für die nächsten Monate lauten also: Wie lange wird die Pandemie andauern, und wie schnell wird sich die Konjunktur von den Pandemiesperren erholen können?
In unserem Hauptszenario rechnen wir damit, dass diese Krise zwar einige Zeit länger andauern kann, die Ausbreitung sich jedoch verlangsamen dürfte, was eine Aufweichung der Massnahmen ermöglichen sollte. Nach einer tiefen aber wahrscheinlich kurzen Rezession werden wir daher voraussichtlich eine wirtschaftliche Erholung erleben. Möglich ist auch eine Phase des reflationären Wachstums aufgrund der aufgestauten Nachfrage und den zahlreichen fiskal- und geldpolitischen Lockerungsmassnahmen. Der jüngste deutliche Rückgang des Rohölpreises bietet Verbrauchern und Unternehmen zudem zusätzliche Unterstützung in Form reduzierter Energiekosten (obwohl dies natürlich gleichzeitig Nationen und Unternehmen, die auf Öleinnahmen angewiesen sind, schadet).
Leider müssen wir jetzt allerdings das Risikoszenario einer länger anhaltenden deflationären Depression hinzufügen: Der Pandemieschock könnte eine sich selbst verstärkende Spirale aus Insolvenzen, Entlassungen und anhaltender Nachfragezerstörung auslösen.
Allerdings erachten wir das Risikoszenario derzeit nicht als sehr wahrscheinlich. Im Unterschied zu vergangenen Präzedenzfällen tun die politischen Entscheidungsträger jetzt alles, um einen wirtschaftlichen Zusammenbruch zu verhindern: Haushalte und Unternehmen werden auf jede denkbare Weise unterstützt, und die bisher verabschiedeten Stabilisierungsprogramme übertreffen bereits alles, was wir in Friedenszeiten gesehen haben. Seit langem bestehende wirtschaftspolitische Tabus (wie das Prinzip der scharfen Trennung von Fiskal- und Geldpolitik oder der ausgeglichenen Haushalte) wurden schnell über Bord geworfen.
Das Bankensystem selbst ist zudem heute in einem besseren Zustand als vor einem Jahrzehnt und daher in der Lage, von der Regierung unterstützte Notkredite an notleidende Unternehmen weiterzuleiten. Natürlich gibt es auch Grenzen, wie lange Volkswirtschaften ein umfassendes Herunterfahren des öffentlichen Lebens aushalten können.
Marktreaktionen: Einpreisung der verschriebenen Rezession
Die «Bleib-zuhause-Rezession» wurde schnell und heftig eingepreist. Die wichtigsten Aktienindizes verloren innerhalb von drei Wochen rund 30% und machten damit die Gewinne der letzten drei Jahre zunichte.
Die Staatsanleihen-Renditen gingen aufgrund der Risikoaversion und der Notfallzinssenkungen (insbesondere der US-Notenbank Federal Reserve) zunächst deutlich zurück, stiegen nach der Ankündigung der massiven schuldenfinanzierten Staatsausgaben aber wieder an. Zwangsliquidationen (Auflösung fremdfinanzierter Positionen) trugen vermutlich auch dazu bei, dass an Paniktagen auch sichere Häfen wie Gold und Staatsanleihen stark einbrachen. Auch Währungen waren unberechenbar: Der US-Dollar reagierte zunächst negativ auf den Verlust seines Zinsvorteils (die Fed senkte um volle 1.5 Prozentpunkte), um dann im Zuge der Flucht in sichere Werte wieder zu steigen.
Konjunktursensitive Rohstoffe gerieten in den Abwärtsstrudel, angeführt vom Rohöl, dass unter dem Doppelschlag aus sinkender Nachfrage und aus politischen Gründen steigendem Angebot litt. Die Kreditaufschläge sprangen auf breiter Front in die Höhe, und die implizite Marktvolatilität (ein Mass für den Preis von Absicherungsgeschäfte) erreichte die Rekordmarken der letzten Finanzkrise. Immerhin haben die Spannungen zuletzt etwas nachgelassen und eine gewisse Erholung an den Börsen ermöglicht. Dies könnte der erste – wenn auch wahrscheinlich nicht der letzte – Versuch sein, einen Boden zu finden.
Taktische Risikoreduktion mit langfristigen Opportunitäten im Visier
Wenn die Einschränkungen des öffentlichen Lebens und der Geschäftstätigkeit gelockert werden können, bevor die Wirtschaft irreparablen Schaden nimmt, dann bieten die gegenwärtigen Marktverwerfungen langfristig attraktive Investitionsmöglichkeiten.
Unser systematischer Marktmonitor (Anti-Cyclical Value Opportunities, ACVO) hat eine ganze Reihe von historisch stark unterbewerteten Anlageoptionen angezeigt, von denen wir jüngst zwei umgesetzt haben: Japanische und europäische Aktien wurden strategisch zugekauft.
Die Marktvolatilität dürfte jedoch noch einige Zeit hoch bleiben. Das birgt die Gefahr, beim Eingehen von Trading-Positionen in den falschen Rhythmus zu gelangen. Wir behalten daher unsere insgesamt neutrale taktische Gewichtung von Aktien bei und nutzen die letztwöchige Erholung, um in unseren Portfolios das Risiko geringfügig zu reduzieren. Konkret haben wir einige Schwellenländeranlagen verkauft und gleichzeitig Gold und den Bargeldbestand aufgestockt.
Trotz der attraktiven Bewertungen und grosszügigen Prämien halten wir es derzeit für das Beste, mit der weiteren Erhöhung der Aktien- bzw. Risikoanlagenquoten abzuwarten. In diesem Zusammenhang beobachten wir zwei wichtige Entwicklungen genauestens:
- Erstens, ob der Höhepunkt der weltweiten COVID-19-Infektionen erreicht und die Einschränkungen danach gelockert werden können, und ob das Risiko einer zweiten Welle eindämmbar und handhabbar ist.
- Zweitens, ob die wirtschaftlichen Folgen im Grossen und Ganzen erfolgreich überbrückt werden können und damit kein systemisches Risiko für das internationale Finanz- /Bankgewerbe sowie für die Unternehmenswelt schaffen, wie während der letzten Finanzkrise.
Das Rebalancing auf die taktischen Quoten bleibt wichtig. Unsere Portfoliomanagementteams handeln hier je nach Marktentwicklung antizyklisch und mitunter häufiger als sonst: Wo sich Vermögenswerte gut entwickeln, wie z. B. im Fall unserer dynamischen Schutzabsicherungsstrategie , realisierten wir Gewinne, während der Erlös selektiv für Käufe in den angeschlagenen Segmenten verwendet wird.
Anlagepolitik im Überblick
Für das kommende Quartal setzen wir die folgende taktische Positionierung um:
Aktien sind insgesamt neutral gewichtet, wobei die entwickelten Märkte bevorzugt werden. Unsere Neigung zu den entwickelten Märkten (sowohl die USA als auch Europa sind leicht übergewichtet) auf Kosten der Aktien der Schwellenländer (Untergewichtung) ist durch die relative Verletzlichkeit begründet. Viele der weniger entwickelten Länder haben wohl ein schwächeres Gesundheitssystem und sind politisch instabiler, was eine effiziente Krisenbewältigung möglicherweise einschränkt. Hinzu kommt, dass sie unter einem plötzlichen Nachfrageausfall auf ihren Exportmärkten leiden. Niedrigere Ölpreise und ein stärkerer US-Dollar bedeuten auch Gegenwind für einige, aber nicht alle Unternehmen in den Schwellenländern.
Anleihen bleiben weiterhin generell untergewichtet (Duration, Kreditrisiken von Unternehmen und Schwellenländer). Im Bereich der Staatsschulden findet unser Fixed Income-Team inflationsgebundene Anleihen derzeit attraktiv. Aus relativer Sicht hat der aktuelle deflationäre Schock zu einer überverkauften Situation bei inflationsgekoppelten Anleihen geführt. Dies gilt ganz besonders angesichts des gestiegenen zukünftigen Inflationspotenzials aufgrund der Kombination möglicher Güterknappheit mit den massiven staatlichen Ausgabeplänen. Investment-Grade-Anleihen profitieren weiterhin von der unbegrenzten Unterstützung durch die Zentralbanken («grenzenlose quantitative Lockerung», bzw. QE). Sie stehen aber auch unter dem Druck der sich verschlechternden Fundamentaldaten (d.h. heftige Gewinneinbussen bei Unternehmen und sich ausweitende Defizite bei Staaten). Ebenso sind viele Hochzinsanleihen-Emittenten jetzt in Schwierigkeiten. Im Falle von Schuldnern aus der Erdöl- und Gasindustrie könnte dies auch so bleiben, nachdem die Pandemie nachlässt. Die Lokalwährungsanleihen der Schwellenländer werden jetzt auch leicht untergewichtet, wegen der oben genannten relativen Anfälligkeiten (zu denen auch die Möglichkeit einer anhaltenden Stärke des US-Dollars gehört).
Bei Währungen und realen Vermögenswerten halten wir an der Long-Position im japanischen Yen (JPY) gegenüber dem Euro (EUR) fest und bauen unsere Position in Gold weiter aus. Der Yen ist traditionell eine Safe Haven-Währung, die bei globaler Risikoaversion verstärkt nachgefragt wird. Der Euro andererseits wird oft gemieden, wenn die Marktängste steigen. Obwohl sich dies bisher nicht in bedeutendem Masse bestätigt hat, behalten wir die Position als kleiner potenzieller Portfolio-Stabilisator bei. Ähnliches gilt für Gold, welches seinem Zweck als Anlage mit Absicherungsqualitäten bisher auch nicht durchgehend nachgekommen ist – insbesondere an Paniktagen mit wahllosen und vermutlich manchmal erzwungenen Verkäufen. Vor dem Hintergrund anhaltender Marktunsicherheit und Zinssätzen nahe bei (oder unter) Null gehen wir jedoch weiterhin davon aus, dass das gelbe Edelmetall wieder glänzen wird. Seine Rolle als alternative Währung und Werterhaltungsmittel könnte ebenfalls an Bedeutung gewinnen, da alle Regierungen nun ihre fiskalische Disziplin über Bord werfen und Inflation langfristig zum Thema werden könnte.
Quelle: AdvisorWorld.ch
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